12. März 2006

Ist ganzheitliches Wirtschaften schon gefragt?

Christian H. Leeb

holistic business development

cleeb@web.de

1. Präambel

Heutiges Wirtschaften ist sehr stark geprägt vom eindimensionalen Fokussieren auf Share Holder Value, von auf Macht aufgebauten, inflexiblen Organisationsstrukturen, vom blinden Glauben an Technologie und von menschenverachtenden Vorgehensweisen zwischen ferner Kinderarbeit und Mobbing gleich um die Ecke. Wir leben und arbeiten mit den Mitteln des vorigen Jahrtausends, mit dem Hirn von Neandertalern in unseren Höhlen, die wir „Firmen“ nennen.

Am Horizont kann man jedoch schon die Morgenröte eines neuen Wirtschaftens erkennen. Es ist menschenzentriert und ganzheitlich, es macht Spaß und bringt bessere Ergebnisse.

2. Entwicklung zweier Pole

Wirtschaft und Gesellschaft unterliegen einem fundamentalen Wandel, nicht zuletzt durch Internet & Co, der Konvergenz der Medien und der Digitalisierung in weiten Bereichen unseres Lebens und Arbeitens.

Dieser Wandel wird sich in der Wirtschaft in zwei Polen manifestieren, die aus meiner Sicht das Wirtschaften dazwischen immer schwieriger machen werden:

· Produkte oder Dienstleistungen, die eineindeutig beschreibbar sind, sind mit Preisen versehbar und im Internet anbietbar. Kunden werden direkt oder unter Zuhilfenahme von Software-Agenten das preisgünstigste Angebot kaufen. Für diesen Kauf sind keine Interventionen und keine Kommunikation zwischen Menschen erforderlich. Es gibt auch keinen Verhandlungsspielraum, die Prozesskosten dafür wären auch schlichtweg zu teuer. Der Preis bestimmt sich klassisch nach Angebot und Nachfrage. Durch die weltweite Transparenz liegen die Priese tief und nah beisammen.

· Produkte oder Dienstleistungen, die erheblichen Erklärungsbedarf, Einzigartigkeit oder Einmaligkeit aufweisen, haben als Voraussetzung, dass sich Menschen austauschen. Dieser Austausch wird face-to-face sein, aber auch vielfältige elektronische Möglichkeiten zusätzlich nutzen.

Beim ersten Pol geht es um Funktion, Preis und Lieferfähigkeit und um Economy of Scale, d.h. dieses Produkt oder diese Dienstleistung muss weltweit skalieren. Nur dadurch ist für den Anbieter überhaupt positiver Deckungsbeitrag zu erzielen, da durch die weltweite, automatisierbare Vergleichbarkeit die Margen äußerst gering sind. Obwohl dieses Thema auch sehr spannend ist, will ich es in diesem Dokument nicht mehr weiter beleuchten.

Ich komme daher zum zweiten Pol.

Beim zweiten Pol geht es hauptsächlich darum, wie Menschen miteinander umgehen. Entscheidend dabei ist, dass hier nur über die Beziehung und das aufgebaute Vertrauen verkauft werden kann. Genauer betrachtet, ist es gar kein Verkauf mehr, sondern die Frage, in welcher Konstellation Menschen zueinander finden, die ein gegebenes Problem oder eine gegebene Aufgabe gemeinsam lösen oder erfüllen können. In dieser Sichtweise ist zunächst auch unerheblich, aus welchen Firmen diese Menschen stammen. In vielen Fällen sind auch Spezialwissen oder –Fertigkeiten nicht so entscheidend wie soziale und emotionale Intelligenz.

Es ist offensichtlich, dass dieses aktive Gestalten von Beziehungen nicht mit klassischem Verkauf und Vertrieb und mit Hochglanzprospekten funktioniert. Im Gegenteil: diese Art an den Kunden heranzutreten, ist vielfach kontraproduktiv und belastet ein Vertrauensverhältnis bzw. lässt ein solches gar nicht erst entstehen.

3. Push / Pull und Inside-Out / Outside-In

Unser Wirtschaften geht großteils davon aus, dass das anbietende Unternehmen das Produkt oder die Dienstleistungen „pusht“ und inside-Out auf den Kunden zugeht. Diese Fokussierung auf sich selbst und nicht auf den Kunden blockiert von vornherein Beziehungen.

In Zukunft wird das jenige Unternehmen nachhaltig kommerziell erfolgreich sein, das es schafft, mit den Augen des Kunden, also Outside-In auf das eigene Unternehmen zu schauen und das mit aktiver Gestaltung ein Szenario generiert, in dem der Kunde und sein eigenes Unternehmen vorkommen, sodass der Kunde einen Pull-Effekt auslöst.

Wichtig erscheint mir hier, dass dieser Pull-Effekt vom Kunden eben selbständig ausgehen muss und nicht durch ein „Push des Verkäufers“ entsteht.

4. Industrie- und Informationsgesellschaft

Vielfach wird schon davon gesprochen, dass wir in einer Informationsgesellschaft leben, manche zitieren auch schon die Wissensgesellschaft. Nun, das scheint mir zumindest immer dann übertrieben, wenn ich wieder einmal sehe, wie viele Menschen zu Beginn oder Ende der Sommerferien im Stau mit ihren Autos stecken: ich denke, wir sind in vielen Bereichen einfach noch nicht sehr weit.

Andrerseits ist unverkennbar, dass immer mehr Menschen in ihrer Beschäftigung „Informationsarbeiter“ sind. Dieser Wandel von der Industrie- zur Informationsgesellschaft verlangt nach neuen Methoden der Zusammenarbeit, nach neuen Formen der Organisationen und nach neuem Verhalten der Menschen zueinander.

Dies wird umso offensichtlicher, je multikultureller, multilingualer und interdisziplinärer die Gruppe ist, die zusammenarbeiten soll oder will.

Mich wundert es, dass es in vielen wichtigen Fragen hier keine nennenswerten wissenschaftlichen Fortschritte gibt. So bleiben meines Erachtens die Organisationsentwicklung, das Marketing, der Verkauf, usw. auf der Stelle stehen. Auch heute werden an vielen Universitäten diese Fächer noch so gelehrt, als ob es Internet & Co nicht gäbe.

Ich denke, dass es in einer Informationsgesellschaft so Dinge wie „Marketing“, „Vertrieb“, „Abteilung“, etc. nicht mehr geben wird. Welche Aufgabe hätte ein Marketing überhaupt? Was soll der Vertrieb vertreiben? – die Kunden? Was wollen Sie in einer vernetzten Welt abteilen, trennen? Und warum?

5. Wider „Geiz ist geil“

Durch Werbung im Konsumgüterbereich wird uns eine Geiz-Ist-Geil-Mentalität eröffnet, die viele Menschen auch in ihr Arbeitsleben übernommen haben. Geiz-ist-geil funktioniert aber maximal beim oben genannten ersten Pol. Und zwar nur dann, wenn es um Einmalinvestitionen oder einfachen TCO (Total Cost of Ownership) -Betrachtungen geht. In anderen Fällen ist auch hier dies kein Optimum: Wie oft haben wir uns selbst schon über scheinbar günstige Geräte geärgert, die dann entweder schnell kaputt geworden sind oder bei denen die laufenden Kosten sehr hoch waren.

In hochkomplexen Konstellationen des zweiten Pols funktioniert Geiz-ist-geil überhaupt nicht. Es anonymisiert die Marktteilnehmer und schwächt Beziehungen dramatisch.

In vielen heutigen Verkaufssituationen ist dies auch erfahrbar. So ist die Methode, Tagsätze zu verhandeln, aus der Geiz-Ist-Geil-Mentalität erklärbar und bringt für keinen der Beteiligten etwas:

· Gute Ideen brauchen oft gar keine Zeit. Sie tauchen „plötzlich“ auf…

· Schlechte Berater brauchen länger…

· Zeitaufzeichnungen werden „hingebogen“…

· Etc.

Wie wollen Sie diese Fälle jemals mit Zeit bewerten?

Und noch ein Beispiel:

Die weit verbreitete Methode, nach inhaltlicher und kommerzieller Einigung zwischen Fachabteilung und anbietender Firma mit dem Einkauf zu verhandeln und sich von diesem den Prozentsatz runterhandeln zu lassen, den man nach der Einigung mit der Fachabteilung aufgeschlagen hat, legitimiert maximal auf kurze Zeit die Existenz des Einkäufers, schafft aber wiederum nicht diese Vertrauensbasis, von der ich in anderem Kontext weiter oben bereits gesprochen habe.

An diesem zweiten Pol geht es nicht um den Preis. Es geht um Vertrauen.

6. Der Glaube an den Wunderwerkzeugkasten

Wenn der Umsatz sinkt und die Deckungsbeiträge negativ werden, entsteht vielfach der Glaube an Lösungen durch den Einsatz von Werkzeugen, genauso wie man ein Tischbein wieder anschraubt oder nagelt oder leimt. Wir analysieren, stellen Probleme fest und reparieren mit unseren Werkzeugen. Es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht ein neues Wort für eine Methode oder eine Technologie in die Welt gesetzt wird, die unseren Werkzeugkasten erweitern oder vervollständigen soll. Sie erinnern sich: IT-Governance, SOX, COBIT, ITIL, ISO 17799, EAI, CRM, Balanced Scorecard, BPM, TCO, Outsouring, Outtasking, Offshoring, usw.

Wenn Sie einen Begriff nicht kennen: Es macht nichts. Die anderen wissen es auch nicht so genau.

Dieses Denken, dass Unternehmen wie Maschinen funktionieren und daher nur das richtige Werkzeug bei Maschinenproblemen angewendet werden muss, sitzt sehr tief. Es tritt z.B. durch Stellenbeschreibungen zu Tage. Die Summe aller Stellenbeschreibungen beschreibt die Funktion des Unternehmens, jede Stellenbeschreibung ist quasi die Beschreibung eines Zahnrades der Maschine. Und das Zahnrad ist der einzelne Mensch.

7. Die neue Ganzheitlichkeit

Ein Wort gewinnt zunehmend an Bedeutung und wird immer öfter verwendet: das Wort „Netzwerk“, und zwar im Sinne von Beziehungen zwischen Menschen untereinander. Und da wir im Wirtschaftsleben dauernd so tun, als müsse man alles managen, so meint man natürlich auch Beziehungen managen zu müssen. Ich persönlich halte das für einen fundamentalen Fehler. Beziehungen kann ich anstreben, mich darauf einlassen, genießen, mich um sie bemühen, und noch vieles mehr. Was ich jedoch nicht kann, ist, sie managen.

Wir wenden dieselbe Denke, die uns zwar bis hierher, aber eben auch nicht weiter, gebracht hat, auf eine Beziehung, auf ein Netzwerk an und sind dann ganz erstaunt, dass das nicht funktioniert.

Aber das ist nur ein Aspekt.

Netzwerke lassen nämlich schon erkennen, dass wir anfangen, über unsere von uns selbst eingerichteten Grenzen hinaus zu denken: über die Grenze der eigenen Stellenbeschreibung, über die Grenze der Abteilung, über die Grenze der Firma.

Netzwerke lassen erahnen, dass da mehrere Dinge irgendwie zusammenhängen, dass es um etwas „Größeres Ganzes“ geht, dass es hier kein oben und unten gibt, usw.

Ich plädiere an dieser Stelle dafür, neben „Netzwerk“ auch das Wort „Ganzheitlichkeit“ einzuführen.

Aus einer ganzheitlichen Perspektive ist die Wirtschaft nicht aus den Teilen, die wir Unternehmen nennen aufgebaut und diese wiederum aus den Abteilungen und diese aus Menschen usw., es ist also nicht so, dass wir Wirtschaft mit Bausteinen aufbauen könnten. Es ist vielmehr so, dass der einzelne arbeitende Mensch, die einzelne Firma bereits das Ganze, die Wirtschaft, in sich trägt und dass das Ganze eben mehr ist als die Summe seiner Teile. Daraus können wir auch folgern, dass die Wirtschaft nicht nach vorgegebenen Gesetzen wie eine große Maschine funktioniert und dass wir bei nötiger Informationslage (dem Input) quasi auch berechnen könnten, wie sich gewisse Aktionen auswirken (Output). Die Wirtschaft ist eben nicht deterministisch und vorhersagbar, und das einzelne Unternehmen auch nicht, und der einzelne Mensch auch nicht.

Wir haben nur die ganze Zeit so getan, als sei der Mensch reduzierbar als Ressource zu begreifen (die aus meiner Sicht widerliche Bezeichnung „Human Resources“ lässt diese Einstellung durchblitzen), als könne ich Menschen ein- und ausschalten, wie ich Maschinen ein- und ausschalten kann, als wären die Finanzen die einzigen Parameter, nach denen sich Erfolg misst. Aus diesem Denken ist es natürlich nicht verwunderlich, dass Mitarbeiter über 50 in die Pension geschickt werden, sind sie ja in den Unternehmensbilanzen nur hohe Kostenverursacher. Das Wissen und die Erfahrung dieser Mitarbeiter scheinen ja in unseren Bilanzen nicht auf. Eigentlich interessant: Bei den Maschinen sind wir großzügiger. Da bemühen wir uns die Nutzungsdauer zu überlegen und den Anschaffungspreis als Wert über Monate und Jahre in unseren Bilanzen zu verankern. Und noch erstaunlicher finde ich, dass wir dieses System, das ja von uns Menschen gemacht wurde, so menschenfeindlich bestehen lassen.

Wir könnten es doch jederzeit ändern.

Natürlich müssten wir uns dann fragen, wie wir die „Nutzungsdauer“ eines Menschen bewerten, auf wie viele Jahre wir ihn „abschreiben“ und wie wir durch Schulungsmaßnahmen den „Wert“ des Menschen erhöhen. Es klingt tatsächlich nicht sehr human, von „Nutzungsdauer“, „Abschreiben“ und „Wert“ in Bezug auf Menschen zu reden. Durch eine ausgesprochene Kündigung eines 50-jährigen machen wir dies aber ohnehin auch jetzt schon in großem Ausmaß publik: „Seht her, die Nutzungsdauer dieses Menschen ist in meinem Unternehmen erreicht, dieser Mensch hat keinen Wert mehr. Wir schreiben ihn zur Gänze ab.“ Hier können auch Sozialpläne, die übrigens selten sozial und noch seltener ein wirklicher Plan sind, nicht darüber hinwegtäuschen.

Wir haben nur die ganze Zeit so getan, als könne die Beschäftigung mit Businessprozessen und Workflow die Sicht auf das Unternehmen als Maschine aufheben, weil es mehr Dynamik suggeriert. Das Gegenteil ist der Fall. Mit diesen Einstellungen wird das lineare Ursache- / Wirkungs- Denken untermauert und gefestigt.

Wir haben nur die ganze Zeit so getan, als sei der Kunde ein funktionierendes Gebilde, das ich mit den Argumenten aus dem Prospekt oder eines psychologisch gefärbten Gesprächs dazu bringen könne, zu kaufen. Ich verändere den Input und schon kommt der gewünschte Output.

Wenn wir also Netzwerke und Ganzheitlichkeit als neu im Wirtschaften sehen oder ihnen zumindest eine wichtigere Rolle als bisher zubilligen, dann müssen wir gleichzeitig auch andere Punkte verschieben. Es kommt daher zu dem, was man hinlänglich „Paradigmenwechsel“ nennt.

Die neue Ganzheitlichkeit versteht sich zunächst als menschenzentriert und menschenfreundlich. Wenn Menschen in ihrer Kreativität, in ihrem individuellen Tun unterstützt und gefördert werden, dann erbringen sie Höchstleistungen. Management heißt dann Rahmenbedingungen schaffen und erhalten, die dies eben ermöglichen. Dazu gehört dann auch, dass Vertrauen die Basis gemeinsamen Arbeitens ist, dass Zeiterfassung und –Kontrolle wegfallen, dass Spaß wieder Einzug in unsere Büros halten kann, dass Menschen verantwortungsbewusst mit anderen und mit sich selbst umgehen, um nur einige Punkte zu erwähnen.

Karriere definiert sich nicht durch die Anzahl der Mitarbeiter „unter sich“ in einer Hierarchie, sondern durch die Anzahl und die Qualität der Verbindungen von und zu anderen Menschen.

Entlohnung besteht nicht nur aus monetären Beiträgen, sondern auch durch „weiche“ Faktoren, wie z.B. durch Anerkennung. Die monetären Beiträge orientieren sich am Wert für das Unternehmen und nicht an der Zeit, die man für die Arbeit gebraucht hat.

Das Unternehmen begreift sich nicht als statische juristische Hülle für seine MitarbeiterInnen, sondern als lebender Organismus in der Wirtschaft. Die Wirtschaft wiederum wird als Netzwerk verstanden, als Ecosystem mit allen Beteiligten und Betroffenen. Aus dieser ganzheitlichen Sicht ergeben sich die sinnvollen oder notwendigen Handlungen fast von selbst.

Menschen werden immer kreativer und finden neue Möglichkeiten um Probleme zu lösen oder Aufgaben zu erfüllen. Fehler werden akzeptiert und als Hinweis verstanden, was beim nächsten Mal anders oder besser gemacht werden solle.

Die klassischen Rollen „Kunde“, „Lieferant“, „Berater“, etc lösen sich vor dem Hintergrund von gemeinsamer Wertschöpfung und Aufteilen des Nutzens auf.

Die Logik ist dann sehr einfach: intrinsisch motivierte und verantwortungsbewusste MitarbeiterInnen, die Spaß bei ihrer Arbeit haben, leisten einfach mehr und qualitativ bessere Arbeit. Sie sind kreativer und erweitern damit den möglichen Realisierungsraum, sie sind bereit, Bestehendes zu hinterfragen und gegebenenfalls zu ändern oder auch radikal neu zu formen, wenn es Sinn für das Ganze hat.

Das alles führt dazu, dass letztendlich Firmen, die nach diesen skizzierten Paradigmen arbeiten erfolgreicher sein müssen als Firmen, die ihre Mitarbeiter und ihre Kunden für so unmündig erklären, dass sie ständig Auflagen und Kontrollen brauchen und somit eine Welt der Einschüchterung erzeugen.

Eine spannende Frage bleibt nun zum Schluss meiner Gedanken übrig: Ist diese Skizze einer ganzheitlichen Orientierung in der Wirtschaft eine Utopie, ein verklärtes Romantisieren oder gibt es bereits Ansätze dafür? Ist also die Wirtschaft und damit eigentlich der Mensch reif dafür?

Eine Antwort ist darauf nicht einfach zu finden. Meine Überzeugung ist, dass es schon längst dazu hätte kommen können oder müssen. Ich bin aber immer wieder erstaunt über die Leidensfähigkeit von Menschen in Firmen und täusche mich auch regelmäßig in der Abschätzung der Zeit, bis eine Veränderung spürbar wird.

Trotzdem glaube ich, dass es in diese Richtung geht, nicht zuletzt deshalb, weil immer mehr Menschen wieder Verantwortung über das eigene Leben übernehmen wollen oder müssen. Und in dieser neuen Verantwortung werden immer mehr Menschen die für sie wichtigen Bedingungen und Rahmen definieren, unter denen sie bereit sind zu arbeiten. Und die meisten werden sich nicht mehr wie bisher nur wegen des Geldes und eines scheinbar sicheren Arbeitsplatzes korrumpieren und einschüchtern lassen.

Die Wirtschaft könnte davon viel profitieren: besser heute als morgen.

5. März 2006

Der Fuchs - 1. Fortsetzung

Der Fuchs und der Käfer

© 2004 by Christian H. Leeb

„Haltet ein!“ schrie der Käfer in Todesangst, „Haltet ein!“. Noch immer schnappte der Fuchs, der schlaue, nach dem Insekt, das ihn schon längere Zeit auf seinem Weg durch den Wald umschwirrte und das ihm nicht erst jetzt lästig wurde.

„Ich bin ein Berater, ich kann Dir von Nutzen sein!“, schrie der Käfer weiter. Nun, Berater, das klang dem Fuchs, dem schlauen, ja vertraut, und so entschied er, er könne den Käfer ja am Leben lassen – eine Zeit zumindest.

„Na, was berätst Du denn?“, fragte der Fuchs, der schlaue.

Nach kurzem Durchatmen antwortete der Käfer: „Ich bin Spezialist von Istanalysen.“

„Das heißt, Du sagst den Leuten, was ist?“, hakte der Fuchs, der schlaue nach.

„Genau“, antwortete der Käfer. „Ich bin da in einem ganzen Beraternetzwerk von Insekten und kann daher jede noch so knifflige Istsituation analysieren.“

„Typisch“, dachte der Fuchs, der Schlaue, „Insekten, wenn ich das schon höre!“. Laut sagte er aber, in einer Balance von Widerwillen und Interesse: „das schaue ich mir an, von wegen Istanalyse!“

„Willst Du mit einigen von uns Beratern diskutieren? Dann könnten wir Dir beweisen, wie gut wir sind“, bohrte der Käfer nach. Er hatte ganz das Gefühl, er müsse einfach mit dem Fuchs im Gespräch bleiben, um ihn nur ja vom Schnappen abzuhalten. Vielleicht würde daraus ja sogar ein Geschäft werden. Ja, so ist das Beraterdasein manchmal: zuerst entrinnt man nur knapp dem Tod und dann hat man einen fetten Auftrag. Jetzt musste der Käfer zum ersten Mal nach der Fuchsattacke wieder schmunzeln.

Der Fuchs war einverstanden, und so trotteten Sie auf die Blumenwiese, um sich mit den anderen Berater-Insekten zu treffen.

Der Käfer stellte die anderen vor. Da war die Biene, die sich auf das Sammeln und Auswerten von Datenmaterial spezialisiert hat und die Fliege, die einen Riecher für faule Situationen hat und natürlich er selbst, der Käfer, der laufend und fliegend alle Werte einfängt und vor allem die anderen Berater koordiniert und die Ergebnisse schön für die Kunden aufbereitet.

„Also, wie macht ihr das nun methodisch mit Eurer Beratung?“, fragte der Fuchs lässig.

„Ich“, sagte die Biene, „ich mache viele Schnappschüsse. Ich fotografiere die Situationen, ich zeichne alle Werte auf. Dann analysiere ich und gebe meine Eindrücke meinen Kunden zurück“.

Der Fuchs, der schlaue dachte jedes einzeln gehörte Wort nickend durch. Dann sagte er:

„Wie kannst Du über komplexe Situationen nur Schnappschüsse machen. Wenn Du eine Situation einmal aufnimmst, dann sagt das ja gar nichts über die ganze Situation; dann ist das doch eher zufällig, was Du aufnimmst, oder? Das kommt ja ganz und gar auf Deinen Blick an, auf das Motiv, das Dir zufällig vor die Kamera tritt; auf den Zeitpunkt, an dem Du abdrückst.“

Dem Fuchs war die Methode mehr als suspekt. Aber noch ehe die Biene erwidern konnte, fuhr der Fuchs, der schlaue fort: „Und wenn Du den Verschluss Deines Fotoapparats, Deines ‚Schappschussapparates’ länger offen hast, dann nimmst Du zwar die Situation über eine größere Zeitspanne auf, aber das Bild wird doch total verschwommen! Es ist doch nicht so, dass die Situation, die Du analysierst, ruhig bleibt. Die verändert sich doch dauernd. Wie kannst Du da überhaupt eine Istanalyse machen? Die ist ungenau und verschwommen; die stimmt schon nicht, ehe Du mit Deiner Arbeit fertig bist.“

„Das sag ich auch immer“, schaltete sich nun die Fliege ein. „Ich mach das anders. Ich filme. - Ihr habt richtig gehört: Ich mache keine Einzelbilder, sondern ich filme die ganze Zeit die Situationen. Meine Filme aus der Fliegenperspektive geben meinen Kunden immer einen guten Überblick, weil ich ja auch dauernd herumfliege“. Überlegen wartete die Fliege auf zustimmende Diskussionsbeiträge.

Aber der Fuchs, der schlaue, hatte auch hier sofort seine Bedenken: „Wenn Du filmst, dann muss ja Dein Kunde Deine Filme ansehen, das braucht doch dieselbe Zeit, wie die Zeit, die auf dem Film vergeht. In dieser Zeit verändert sich die Situation, die Du gefilmt hast, ja wieder. Du weißt also sehr wenig über die Situation“.

„Wenn wir noch zu wenig wissen“, warf die Biene ein, „dann sammeln wir nur um so fleißiger noch mehr Material, und dann noch mehr und noch mehr! Das war schon immer so bei Istanalysen. Und der Kunde sammelt auch. Bis wir genügend Informationen haben.“

„Wir wissen dann schon, wie es ist“, meinte trotzig die Fliege.

„Wie es war!“ korrigierte der Fuchs, der schlaue. „Oder, wie ihr glaubt, dass es war“, noch präzisierend.

Der Käfer saß die ganze Zeit still und dachte betroffen nach. Irgendwie hatte der Fuchs ja Recht: „Das hieße ja, dass Istanalysen überhaupt unmöglich sind?!“, formulierte er halblaut.

Der Fuchs, der schlaue schaute ihn mitleidsvoll an.

„Und warum machen dann alle, Kunden wie Berater, dauernd Istanalysen?“ hakte der Käfer attackierend nach und schaute in die schweigend-betroffene Runde.

Der Fuchs stand auf und machte sich wieder auf den Weg. „Noch viel schlimmer ist, dass die, die die Istanalysen machen, den Blick trüben und sich selbst den Horizont nehmen, um mögliche Sollszenarien zu entdecken. Damit rauben sie sich und anderen die Chance, Zukunft aktiv zu gestalten“. Aber das dachte er nur mehr für sich. Die Insekten-Berater würden ihn ja doch nicht verstehen.

Der Fuchs

Der Fuchs, der Schlaue

© 2003 by Christian H. Leeb

Der Fuchs, von dem alle behaupten, dass er schlau sei, kannte sich tatsächlich in vielen Dingen sehr gut aus, oder zumindest besser als so mancher andere Waldbewohner. Unser Fuchs fühlte sich zudem noch schlauer als alle anderen Füchse, das heißt, als all die anderen Füchse, denen er bisher begegnet war.

Eines Tages – es war mitten im Hochsommer – kam er bei seinen täglichen Streifzügen durch den Wald, den er seit er sich erinnern konnte bewohnte, an eine Lichtung, die er zuvor noch nie gesehen hatte. Die Wiese auf der Lichtung war saftig grün mit vielen Blumen in allen Farben und Formen und Größen durchwachsen, es roch intensiv nach Sommer und guter Laune, und die Sonne langte gierig mit ihren warmen Strahlenarmen nach dem Fuchs, dem schlauen. Der Unterschied zum finsteren, kalten, nassen Wald, den der Fuchs, der schlaue, bisher kannte, konnte kaum größer sein. Mit einem Mal wusste der Fuchs, der schlaue, dass diese Blumenwiese das Höchste aller Gefühle, das Allerschönste alles Schönen und das Erstrebenswerteste alles Erstrebenswerten in einem Fuchsleben ist.

Da unser Fuchs, der schlaue, nun mit eigener Kraft – also ohne fremde Hinweise oder sonstiger Unterstützung der anderen Füchse - diese Blumenwiese gefunden hatte und weil er ein Fuchs war, der seine Freude darüber durchaus mit anderen Füchsen teilen wollte, meinte er, dass er auserkoren sei, die Blumenwiese auch den anderen Füchsen des Waldes mitzuteilen, damit diese die Blumenwiese ebenfalls erleben konnten.

Und weil er es nicht mehr aushielt vor lauter Freude und Glücksgefühl, schrie er auf der Blumenwiese nach Leibeskräften nach seinen Gefährten und schrie und schrie, wie schön es hier doch sei und dass alle kommen sollen. Der Fuchs, der schlaue, schrie zwei Tage und zwei Nächte lang durch. Aber so sehr er auch schrie, es kam niemand. Nach zwei Tagen und Nächten war er heiser und er musste aufhören zu schreien.

Traurig, weil ihn niemand gehört hatte, überlegte der Fuchs, der schlaue, wie er es schaffen könne, die anderen Füchse zu der Blumenwiese zu bringen. Und so machte er sich auf den Weg, seine Gefährten zu suchen, merkte sich, so gut es ging, die Position der Blumenwiese und stapfte in den finsteren Wald zurück.

Es dauerte nicht lang, da begegnete er dem alten, grauen Fuchs. Er kannte ihn schon von Kind an und er hatte auch sehr viel von ihm gelernt. Der Fuchs, der schlaue, erzählte dem alten, grauen Fuchs von der Blumenwiese mit all den Worten, die er finden konnte und die ihm angebracht erschienen. Doch so sehr er sich auch bemühte und je länger er auch erzählte, der alte, graue Fuchs wollte ihm keinen Glauben schenken. Anfangs hatte er noch nachgefragt, wollte das eine oder andere genauer wissen. Mit zunehmender Unterhaltung wurde der alte, graue Fuchs aber immer stiller und stiller, bis er gar nichts mehr sagte. Sein Gesichtsausdruck wurde immer gelangweilter, bis er ganz ins Missfallen überschwappte, so offensichtlich, dass es auch unser Fuchs, der schlaue, bemerkte und mitten im Satz aufhörte. Er sah ein, dass jedes weitere Wort umsonst war. Trotzdem fand er noch eine Möglichkeit, sich so halbwegs freundlich vom alten, grauen Fuchs zu verabschieden. Traurig und zornig zugleich ging er schnell weiter, ohne zunächst jedoch auf die Richtung zu achten. Mit den alten, grauen Füchsen ist es doch immer dasselbe, dachte er. Sie sind einfach schon zu lange auf dieser Welt, sie werden uneinsichtig, starrköpfig, inflexibel und rechthaberisch. Sie glauben einem anderen Fuchs einfach nicht, nur weil der eben jünger ist. Bei diesen Gedanken musste der Fuchs, der schlaue, wieder etwas schmunzeln, und Mitleid stieg in ihm hoch bis zur Nasenspitze. Er blieb stehen, atmete tief durch und überlegt, was er nun tun könne.

Weil ihm nichts einfiel, stapfte er einfach gerade aus weiter, auch tiefliegende Äste konnten ihn nicht davon abbringen. Sein Gesicht wurde zerkratzt, aber er spürte keinen Schmerz. Er ging zwei Tage und zwei Nächte lang, dann fiel er vor lauter Müdigkeit um, wo er gerade war und schlief. Er schlief tief und fest. Zwei Tage und zwei Nächte lang.

Am dritten Tage stand er auf und trottete, tief in Gedanken versunken, in die Richtung weiter, die er zufällig beim Aufstehen eingeschlagen hatte.

Es dauerte nicht lange, da nahm der Fuchs, der schlaue, die Spur eines anderen Fuchses auf. Und nur wenig später hatte er den anderen Fuchs gefunden. Der andere Fuchs, der faule, lag bei einem umgefallenen Baum und träumte so vor sich hin. Nur mühsam hob er sein Haupt, als der Fuchs, der schlaue, auftauchte, murmelte ein paar Worte scheinbar zum Gruß und war knapp dran, wieder in ein tieferes Schlafniveau zu versinken. Der Fuchs, der schlaue, aber redete sofort auf den Fuchs, den faulen, ein und schwärmte von der Blumenwiese. Er hatte sich ja die Tage zuvor die Worte trefflich überlegen können und die Argumente wohlweislich gesammelt. Doch weil der Fuchs, der faule, sich gar nicht bewegte, versuchte der Fuchs, der schlaue, ihn mit allen möglichen Griffen zu schnappen und heben, und trug und schubste und stieß ihn vor sich her. So zerrte er den Fuchs, den faulen, immer näher in Richtung Blumenwiese, und der Fuchs, der faule, ließ es sich gefallen. Mit der Zeit kam es dem Fuchs, dem schlauen, eigenartig vor, dass sich ein Fuchs so ohne Widerstand von einem anderen schleppen ließ. Er hielt an, schaute den Fuchs, den faulen, genauer an und bemerkte, dass dieser verstorben war. Da hielt der Fuchs, der schlaue, inne und weinte, einmal um den anderen Fuchs und einmal darum, dass er die offensichtliche Krankheit mit Faulheit verwechselt hatte. Dem Fuchs, dem schlauen, graute gar fürchterlich. Er malte sich aus, dass er den Tod des Fuchses, des faulen – nein: des kranken – herbeigeführt haben könnte. Dabei wollte er ihn doch nur auf die Blumenwiese führen. Er weinte zwei Tage und zwei Nächte lang, dann hatte er keine Tränen mehr.

Er stand auf und trabte langsam und nachdenklich weiter im Wald umher. Doch er war ausgelaugt und ausgebrannt, und nach nur wenigen Schritten musste er sich wieder hinlegen. Sofort schlief er ein. Wie er wieder zu sich kam, schauten viele Fuchsaugen auf ihn runter. Ein ganzes Fuchsrudel hatte ihn entdeckt. Sonderbar, früher wäre ihm das nicht passiert, er wäre sicher viel früher aufgewacht. Glücklicherweise waren es keine feindlichen Tiere. Er stand auf und erkundigte sich nach dem Befinden jedes einzelnen Fuchses. Was sie wann und wo getrunken und gegessen hatten, welche Probleme und Sorgen sie haben, welche neuen Möglichweiten und Herausforderungen sie annehmen wollten. Er hörte aufmerksam zu, unterbrach nie und merkte sich alle Einzelheiten. Als es Zeit war, stand er auf und ging mit dem Rudel einfach mit. Einmal ging er an der Spitze und bestimmte indirekt den Weg mit, einmal wartete er auf den Fuchs am Schluss und ermunterte ihn, doch nicht aufzugeben und trotz Müdigkeit weiterzugehen. So lief der Fuchs, der schlaue, hin und her. Es mochten wohl zwei Tage und zwei Nächte gewesen sein, als plötzlich von der Ferne ein Lichtstrahl in den dunklen Wald hereinbrach. Die Füchse hielten inne und beratschlagten, was sie nun tun sollten. Der Fuchs, der schlaue wartete, lächelte unmerklich überlegen, sagte jedoch nichts. Die Füchse kamen nach einer kurzen Diskussion zum Schluss, dass sie weiter auf diesen Lichtstrahl zugehen wollten. Und so geschah es, dass der Fuchs, der schlaue, gemeinsam mit dem Fuchsrudel auf die Lichtung zusteuerte. Schon wollte er der Versuchung unterliegen und seine Erlebnisse von der Lichtung erzählen, aber irgendwie beherrschte er sich, wahrscheinlich, weil er den anderen Füchsen nicht ihre Vorfreude abrupt nehmen wollte, die sich allmählich und mit jedem Schritt mehr in ihren Herzen breit machte. Nur noch wenige Schritte und sie waren an der Lichtung. Alle Füchse wurden schneller und schneller und stürmten auf die Lichtung. Sie spielten und tollten in der Wiese, die Sonne lachte wieder herunter. Die Füchse hatten mächtig Spaß daran.

Der Fuchs, der schlaue, aber war nachdenklich am Rand der Lichtung stehen geblieben. Staunend erkannte er, dass sie auf einer neuen Lichtung herausgekommen sind, wieder eine Lichtung, die er noch nie gesehen hatte.

Und dann lächelte er weise und tollte mit den anderen Füchsen herum und freute sich über alle Maßen.